Die Manifestation des Präventionsparadoxes

In vielen deutschen Städten protestieren in den letzten Wochen immer mehr Menschen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus’. Nachdem das öffentliche Leben durch geschlossene Schulen, Kitas und Geschäfte stillstand und viele Arbeitnehmer*innen in Kurzarbeit zuhause saßen, versucht die Politik nun einen vorsichtigen Neustart der Wirtschaft. Abstand zu Mitmenschen und die Maskenpflicht in Geschäften und ÖPNV zeigen jedoch: Das Virus ist weiterhin allgegenwärtig. Deutschland schafft es, Horrorszenarien wie in Italien oder Spanien zu vermeiden und das Gesundheitssystem wird nicht überlastet. Trotz dieser Errungenschaften sehen Einige ihre Grundrechte durch die Maskenpflicht derart beeinträchtigt, dass sie seit Ende April auf die Straße gehen. Ein bunter Mix aus Verschwörungsideolog*innen, Impfgegner*innen, jungen Familien etc. protestieren von nun an wöchentlich auf den Straßen. Angeheizt werden sie von Prominenten wie Xavier Naidoo und zahlreichen Chatgruppen im Telegram Messenger. Die Proteste in Hannover werden anfangs hauptsächlich von Impfgegner*innen organisiert, später spaltet sich die Gruppe und wird unübersichtlicher. Es folgt eine Analyse der Protestbewegungen in Niedersachsen und Hannover im April und Mai 2020.

Geschlossene Niki-de-Saint-Phalle-Promenade in Hannover. 21.03.20, Hannover

Von “Flatten The Curve” zu …

Als sich der Ausbruch des neuartigen Coronavirus’ Anfang 2020 zu einer globalen Pandemie entwickelt, bestimmen Berichte von erschöpften Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen aus Italien und Bilder von Desinfektionstrupps in Schutzanzügen die Nachrichten. Seit langer Zeit trifft eine Krise solchen Ausmaßes Deutschland und spielt sich für uns nicht nur in weiter Ferne und abends in der Tagesschau ab. Die Trends auf Social Media werden von #flattenthecurve, #socialdistancing und #stayathome dominiert. Viele Menschen fühlen sich zunehmend verunsichert und auch die Politik gerät schnell unter Handlungsdruck.

Am 14. März schließen fast alle Bundesländer die Kitas, Kindergärten und Schulen, am 16. März ruft Bayern den Katastrophenfall aus. Zwei Tage später macht Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache deutlich: „Jetzt ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“. Wenig später folgen in vielen Bundesländern Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Die Corona-Pandemie ist in Deutschland angekommen.

Die deutschen Außengrenzen werden nach und nach geschlossen. Der Grenzverkehr kommt zum Erliegen. Extrem Rechte, die schon seit Jahren Grenzschließungen fordern, sehen ihren Traum erfüllt. Während das Auswärtige Amt 240.000 ins Ausland gereiste Deutsche zurückholt, werden Asylverfahren in dieser Zeit pausiert. Seenotretter*innen werden aufgefordert, in den Häfen zu ankern und keine Rettungsaktionen durchzuführen. Die Situation an der europäischen Außengrenze und insbesondere in den Lagern auf den griechischen Inseln gerät angesichts des Coronavirus’ aus dem Blickfeld.

In den letzten Monaten gab es in Hannover immer wieder Proteste um auf die Situation der Menschen in den Lagern an der EU-Außengrenze aufmerksam zu machen. Die Polizei schritt teils rigoros ein, obwohl die Demonstrant*innen sehr genau auf Abstände zueinander und das Tragen eines Mundschutz achteten.

Am Anfang der Krise entstehen in Hannover zahlreiche Nachbarschafts-Initiativen und Angebote für Einkaufshilfen. Viele sehen Solidarität als das Gebot der Stunde und erkennen: Die Krise betrifft uns zwar alle, sie bedroht aber Manche mehr als Andere.

Auf Social Media ist es die Zeit der leeren Regale. Toilettenpapier wird zum Symbol der Krise — obwohl keine Versorgungsengpässe abzusehen sind. Manche Menschen reagieren mit Panik, andere sind von den Hamsterkäufen schlicht genervt. Eine Krise in diesem Ausmaß schien nicht vorstellbar und stellt viele Menschen vor eine Belastungsprobe: Selbständigen fehlen die Aufträge, Ladenbesitzer*innen und Restaurantbesitzer*innen haben keine Einnahmen. Deutschlands Betriebe melden für über Zehn Millionen Menschen Kurzarbeit an. Für Familien wird die Pandemie zum Stresstest. Während die Eltern etwa in Videokonferenzen im Home Office arbeiten, fehlt den Kindern der soziale Umgang und die Beschäftigung.

Während die Münchner Polizei Anfang April mit einer Twitter Meldung irritiert, nicht mal das Lesen eines Buches auf einer Parkbank sei erlaubt, und die sächsische Landesregierung die Bürger*innen und die Polizei schwammigen Auflagen verwirrt, fährt Niedersachsens Landesregierung in der Krise einen moderaten Kurs. Die Polizeipräsenz im Alltag hat zwar unmittelbar zugenommen. Bei Verstößen gegen das Abstandsgebot und die Gruppengröße bleibt es aber meist bei Ermahnungen und der Androhung von Konsequenzen. Die meisten Menschen scheinen sich an die Vorgaben zu halten. Im warmen April sitzen viele Menschen mit Abstand und in Zweier-Grüppchen auf den Grünflächen an der Ihme.

Protest am am 25. April an der Löwenbastion. Dr. Carola Javid-Kistel spricht. 25.04.20, Hannover

Protest gegen Einschränkungen von Grundrechten

In den ersten Wochen der Pandemie rückten Politik und Gesellschaft zusammen. Die Maßnahmen der Bundesregierung fanden große Unterstützung in der Bevölkerung und die Umfragewerte der CDU zeigten steil nach oben. Nicht einmal die AfD hatte anfangs einen wirklichen Gegenentwurf zu den Maßnahmen. Je mehr sich allerdings abzeichnete, dass Deutschland eine Überlastung des Gesundheitssystems fürs erste verhindern konnte, desto mehr befreiten sich die politischen Akteure aus ihrer Schockstarre. NRWs Ministerpräsident inszeniert sich bald als Manager der Lockerungen, Boris Palmer stellt fest, dass Menschen eh irgendwann sterben und Liberale und Konservative sehen ihre Chance in der Verteidigung unsere Grundrechte, die durch die Maßnahmen gegen das Coronavirus zu weit eingeschränkt worden seien. Auch durch die später eingeführte Maskenpflicht in ÖPNV und Geschäften fühlen sich einige in ihren Rechten beschnitten. Diese Stimmung in Teilen der Bevölkerung nutzen auch Andere aus, die in der Krise politisches Kapital sehen.

So bezeichnet der von Ken Jebsen betriebene Youtube-Kanal KenFM die staatlichen Maßnahmen nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie als „Corona Diktatur“, „Machtergreifung“ und „assymetrischen Krieg“ der „Superreichen gegen die restlichen 99 Prozent“. Auch die Bill und Melinda Gates Stiftung wird in mehreren — teils millionenfach geklickten- Videos thematisiert. Das Fernsehmagazin Monitor bezeichnet KenFM als „eine der bekanntesten ‚alternativen‘ Plattformen in Deutschland’, die Thesen von Ken Jebsen wurden schon mehrfach als Verschwörungideologien entlarvt. Hier ein Faktencheck zu einem der Videos.

Auch Prominente wie Xavier Naidoo, der in den letzten Jahren schon öfter durch seine Nähe zu Reichsbürger*innen und Verschwörungsideolog*innen aufgefallen ist oder der vegane Koch Attila Hildmann, melden sich zu Wort.

In Hannover finden sich am 25. April etwa 80 Menschen unter dem Motto „Nicht ohne uns“ zusammen. Unter dem Vorwand, die Grundrechte verteidigen zu wollen demonstriert an der Löwenbastion am Maschsee eine heterogene Masse aus Verunsicherten, Impfgegner*innen, vielen jungen Müttern und ein paar Hippies. Manche leugnen die Gefahr durch CoVid-19, andere vermuten eine Verschwörung von „Eliten“ im Hintergrund, andere meditieren auf einer Picknickdecke für das Grundgesetz. Aus anfangs 80 Teilnehmer*innen an der Löwenbastion, werden am folgenden Samstag schon über 400 am Nordufer des Maschsees und in der Woche darauf schon mehr als 1000 Teilnehmer*innen bei zwei verschiedenen Demonstrationen in der Innenstadt. Zur gemeinsamen Kommunikation wird sowohl bei den ideologischen Vordenkern wie Ken Jebsen oder Atilla Hildmann und bei der regionalen Organisation von Demonstrationen auf den Messenger Telegram zurückgegriffen.

Ein Mann macht ein Foto von einem “Gib Gates keine Chance!” Aufkleber, den ein Anderer an ein Polizeifahrzeug geklebt hat. 9.5.20, Hannover

Telegram als Durchlauferhitzer für die Radikalisierung

Bei Telegram ist der Einstieg in eine Gruppe besonders niedrigschwellig. Auf den Link geklickt, kann bereits mitgelesen, nach Beitritt dann auch diskutiert werden. Zuerst gründet sich in Hannover der Chat “Wir Wachen Auf”- hervorgegangen u.a. aus dem sogenannten Impfstammtisch. Die Gruppe ist von vornherein fest in der Hand von Impfgegner*innen. Viele junge Frauen mit Kindern finden sich bei den ersten Protesten ein. Eine, die besonders engagiert ist: Dr. Carola Javid-Kistel, die bei den Veranstaltungen von “Hannover Wacht Auf” spricht. Es liegen Unterschriftenlisten für eine Petition gegen einen vermeintlich anstehenden “Impfzwang” aus. Die Ärztin und Homöopathin aus Duderstadt gibt der Gruppe und den Kundgebung einen seriösen Anstrich.

Bereits früh kommt es im Chat zu internen Konflikten: “Kai Orak”, selbsternannter Journalist und Betreiber des YouTube Kanal “Kai aus Hannover 2” fragt, wer hinter der Orgagruppe stehe. Bei einer Diskussion, um das Verhältnis zur Polizei stellt er klar, diese sei nicht auf der Seite des Protests und hätte das Recht nach “Lissabonner Vertrag” alle Demonstrant*innen gegebenenfalls zu erschießen. Er vermutet hinter der früh gegründeten Gruppe eine Verschwörung von “Systemagenten”. Nach kurzer Diskussion fliegen er und sein Kameramann aus dem Chat.

Eine neue Gruppe wird gegründet: “Corona Diktatur NEIN Danke”. Zwei Wochen später mobilisieren Kai Orak und Xenia Schaad, die u.a. über Preppen bloggt und in einer Gruppe sagt sie halte “Politisch nichts von Politik”, zu einer eigenen Kundgebung.

Zeitgleich entstehen in der Online-Parallelwelt auch die “Corona Rebellen Hannover”. Hier finden sich noch kommunikativere Menschen zusammen. Zehntausende Nachrichten werden in kürzester Zeit verschickt.

Überregional gibt es lange zwei Gruppen. Eine wird dann am 13.5. gelöscht. Zur Vernetzung mit Gleichgesinnten in Niedersachsen dient nun die Gruppe “Freie Deutsche Welle”.

Eine detaillierte, grafische Analyse der Zusammenhänge von Raphael Knipping und Michael Trammer (der Autor) findet sich hier. Alle verwendeten Daten sind öffentlich abrufbar, die User*innen haben wir anonymisiert:

(Stand Mai 2020) Über 770 Einzelpersonen sind in Hannover in den unterschiedlichen Chats verbunden. Die Gruppen sind eher Informationsblasen und dienen zum Austausch, der Aktionsplanung und als Kummerkasten. Die Teilnehmer*innen sind meist nur in einer oder zwei der regionalen Gruppen aktiv. Wer bei der Hannoveraner “Corona Rebellen” Gruppe ist, ist meist auch Teil der Niedersachsen Gruppe. Die “Freie Deutsche Welle” war zuerst eine selbsternannten “Aktionsgruppe”.

Auch explizit neonazistischer Content wird in allen Chats geteilt. Ein “lustiges Video” zeigt einen verwirrt scheinenden Mann, der in einer Stadtbahn in Hannover wiederholt den Hitlergruß zeigt. Viele geben an Anhänger*innen von “Q”, also der QAnon Verschwörungsideologie, zu sein. (Ein Artikel der “Zeit” zum Thema)

Ein Video des Attentäters von Hanau, Anhänger eben dieser QAnon-Ideologie, wird in der Gruppe geteilt. User*innen wittern eine weitere Verschwörung und wollen erstmal die Leichen sehen. Auch oft geteilt: Ein gelber Davidstern mit den Worten “nicht geimpft” in der Mitte. In der Aktionsgruppe werden Chips, die zur Identifizierung von Menschen angeblich injiziert werden sollen, mit Tätowierungen von Auschwitz Opfern gleichgesetzt. Inhaber und Admins einer Gruppe sprechen sich wiederholt für Gewalt aus.

Einer postet wiederholt ein Templer Outfit. Bei Facebook kommentiert Frank S. bereits vor 3 Jahren, das habe er “für die Moslems” bereitgelegt. Neben dem Outfit steht ein Stahlhelm mit Schwarz-weiß-rotem Wappen. Bei der Kundgebung von “Wir wachen auf” steht er am 9. Mai am Gitter, auf seinem Shirt ein stilisierter Reichsadler unter dem in Frakturschrift die Worte: “Go fuck yourself!” prangen.

Einige besonders extreme Beispiele im Chat:

Meditation am Rande der Hannoveraner “Hygienedemo” am Maschsee. 02.05.20, Hannover

Akte der “Rebellion”

Zur Termin- und Aktionsabsprache finden sich oft Redefreudige. So plant man zur nächsten Demonstration in Hannover einen Spaziergang zu machen. Gemeinsam soll gestartet werden: Vom Hannoveraner Hauptbahnhof zum Protest am Steintor — vorausgesetzt, der findet dort statt. Später werden noch Verantwortliche für den Spaziergang ernannt. “Unterm Schwanz” soll sich um 14:00 Uhr am Hauptbahnhof getroffen werden. Auch Montagsspaziergänge sind bereits angedacht. Zu einem Ersten kamen knapp 20, zum zweiten nur noch 3. Die Polizei war mit viel Personal vor Ort.

Zwischen all dem Content wird sich auch noch über alltäglichen “Widerstand” ausgetauscht. Einer teilt Bilder von einem Ausflug im Deister zum Kreide Malen. “KreideCalli43”, Admin und hier “Gruppenführer” genannt, gibt an in einem Seniorenheim zu arbeiten. Brisant: Oft sind explizite Verstöße gegen Hygieneempfehlungen Thema in der Gruppe.

Akt des Widerstandes ist es in den Augen der “Rebellen”, keine Mund-Nasen-Bedeckung beim Einkaufen oder in der Bahn zu tragen. Einer erzählt in einem Video “Kai aus Hannover”, er stecke sich Tampons in die Nase, male diese rot an und wickle sich eine Binde um den Kopf. So täusche er eine Nasen-OP vor. Seine Schilder sind immer besonders detailreich.

Bei allen Veranstaltungen in Hannover kann beobachtet werden, wie Menschen sich am Rand der Kundgebungen umarmen. Eine Gruppe sagte am 9. Mai: ”Oh das haben wir vermisst, das ist einfach toll!”.

Die nicht eingehaltenen Sicherheitsabstände und das Verweigern von Schutzmasken bei den Kundgebungen werden von der Polizei Hannover lange ignoriert. Es gibt Ansprachen, die ohne Folge bleiben. Beim letzten Protest am 9.5. werden auch Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen ein paar Teilnehmer*innen eingeleitet. Die Polizei Hannover hält sich allerdings zurück. In Twitter-Threads habe ich die Abläufe der Veranstaltungen dokumentiert — hier zum Nachlesen:

Abgesehen von den kruden Verschwörungsideologien, die breit in die Öffentlichkeit getragen werden, stellen die Versammlungen eine echte Gefahr für alle, die zur Risikogruppe gehören, dar.

Ein Mann mit Sturmhaube und “Gib Gates Keine Chance” Pullover nimmt am Protest teil. 02.05.20, Hannover

Alle gegen Gates ?

Es dauert eine Weile im Wirrwarr der Links und Beiträge eine gemeinsame Ideologie zu finden. Die Einen sagen, CoViD-19 sei im Labor gemacht um Bürger*innen Zwangszuimpfen; Andere sagen, 5G würde die Symptome auslösen. Manche meinen, Bill Gates wolle ihnen Mikrochips einpflanzen, andere sehen nur die Raffgier als Motiv, einen Impfstoff zu entwickeln. Leichte Erklärungen bieten Lösungen für komplexe Probleme.

Es scheint aussichtslos, die Diskutierenden mit “Debunking” dieser verschiedenen Theorien zu überzeugen. Die, die daran glauben, interessieren sich scheinbar nicht mehr dafür, was faktisch belegbar ist. Man könnte eigentlich meinen, das Argumentationsschema “Beweise mal das Gegenteil” wäre vor langer Zeit allgemein als eher unbrauchbar abgestempelt worden. Zu jedem Fakt gibt es einen alternativen Fakt und wer den anzweifelt, ist automatisch “System Agent” und Spalter.

Unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit wird die Möglichkeit des Sagbaren verschoben. So fällt schon mal nebenbei ein Satz wie: “Ich weiß schon dass Hitler gegen die dunkle Macht gekämpft hat.”

Wie Robert Andreasch gegenüber dem Bayerischen Rundfunk mit Blick auf die Münchner Gruppen bereits feststellte, überbieten sich die Teilnehmer*innen mit Verschwörungs-Content. Gleiches gilt in Niedersachsen. Es muss immer noch mehr Geheimnis enthüllt werden, noch ein antisemitisches Sharepic hinterher. Manche User*innen schicken zig Sprachnachrichten in denen sie Einblick in ihr zutiefst antisemitisches Weltbild geben.

Es sollte aber auch erwähnt werden: Die wenigsten User*innen in den Kanälen liefern Beiträge. Die meisten scheinen nur mitzulesen oder die Nachrichtenflut von knapp 1000 Nachrichten pro Tag zu ignorieren. In mancher Gruppe übernehmen gar Trolle die Oberhand. Es kommt zu Widerspruch und Diskussionen. Die Gruppen werden für die Verschwörungsideolog*innen unbrauchbar.

Verschiedenste Theorien gesammelt auf einem Banner. 25.04.20, Hannover

Corona Querfront?

Anfang März bestand vielleicht noch eine kleine Hoffnung: Der extremen Rechten fehlten stichhaltige Antworten auf die akute Bedrohung durch die Pandemie. Vielen war und ist bewusst, dass um die Krise bestmöglich zu überwinden, Solidarität das Gebot der Stunde ist. Solidarität mit Alten und Vorerkrankten, Solidarität mit Menschen die kein Zuhause haben, um sich zu schützen und mit denen, die mit Nichts an den Außengrenzen festsitzen. “Nationale Initiativen” in der Nachbarschaft waren mehr peinlich, als aktiv.

Die extreme Rechte wittert mit dem Aufkommen der sogenannten “Hygienedemos” die Gunst der Stunde. Die Partei “Die Rechte” gibt eine Handlungsempfehlung für Aktivist*innen heraus, sich in der lokalen Organisation zu betätigen. So kam es, dass in Hildesheim die Soundanlage von der neonazistischen Gruppe gestellt wurde und ein Parteivertreter sprach.

Die AfD meldet prompt am 8. Mai eine Kundgebung gegen die Maßnahmen an. Diese wird erst verboten, dann abgesagt und dann gerichtlich doch erlaubt. Es findet nur der Gegenprotest statt. Am 15. Mai soll die Kundgebung nachgeholt werden. In den Chats ist man sich uneins — für Viele ist die AfD nur “Systempartei“.

Teilnehmerin der Proteste mit gelbem Stern und “Nicht geimpft”-Aufschrift. 09.05.20 — Foto von Felix Dressler

Bei den Protesten sind einschlägig bekannte Gesichter anwesend. Einige von der „Jungen Alternative“ sind bereits beim zweiten Protest dabei. Eine Gruppe, die zuletzt bei der Resterampe von HAGIDA aktiv war, säuft unweit der Kundgebung von “Wir Wachen Auf”, bei der Kinder im Brunnen spielen. Einer aus der Gruppe springt mit einer Pestdoktor-Maske durch die Aufzeichnung der Veranstaltung. Kolleg*innen und mir droht er unsere Kameras zu zerstören, falls wir Bilder machten und uns ins Gesicht zu schlagen. Uns wird vorgeworfen: “Ihr seid Systemlinge!”

Ein älterer Herr mit zerzausten Haaren und grünem Schal schreit bei der Kundgebung am 9. Mai am Opernplatz in gleicher Motivation den Gegenprotest an. Lothar L., extra aus Dresden angereist, Inhaber eines wenig besuchten, dafür aber umso mehr antisemitischen YouTube-Kanals, echauffiert sich über den Gegenprotest. Andere tun es ihm gleich:

Fakten und Framing

Am 9. Mai in Hannover demonstrieren Hunderte gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in Deutschland. Zwei Kundgebungen wurden angemeldet. Dicht gedrängt lauschen Menschen den Reden am Opernplatz, während am Georgsplatz meditiert wird und für Freiheit gesungen wird. Noch mehr drängen sich um den von der Polizei abgegitterten Bereich. Neben denen, die sich vor Geschäften mit Abstand in Schlangen stellen, Mundschutz tragen und immer noch versuchen, sich an Empfehlungen von Wissenschaftler*innen zu halten, findet der wohl größte Protest in Niedersachsen, seit Beginn der Corona Pandemie, statt. In der Mitte des Platzes stehen Polizist*innen. Der Menschenmenge, die dem Aufruf von Kai Orak und Xenia Schaad gefolgt ist, stehen etwa 60 Gegendemonstrant*innen gegenüber. Sie halten Abstand, tragen Mundschutz und präsentieren ein Banner mit der Aufschrift “Querfront & Verschwörung”.

Kai Orak spricht mit Alibi-Mundschutz bei seiner Kundgebung. 09.05.20, Hannover

Währenddessen hält Kai Orak, zur Eröffnung der Veranstaltung, am 9. Mai eine hitzige Rede. Mit selbstgebauter “Maske”, aus einem Stoffgitter und Klebeband tritt er vor die Menge die seinem Aufruf und seiner Anmeldung gefolgt ist:

“Ich denke wir haben alle das gleiche Ziel oder das gleiche Problem: Wir alle merken, dass in diesem Land was nicht stimmt. Gewaltig was nicht stimmt.“

Zu Beginn stellt er klar er habe sich bereits am Anfang der Krise nicht über die etablierten Medien, sondern selbst informiert: “Weil die alle lügen!”. Das Publikum antwortet mit Johlen und Applaus. Laut Kais Analyse sei die Reproduktionszahl seit 21. März unter 1. Bei den Sterbezahlen passiere nichts. “Das ist eine Medien-Epidemie, aber nichts anderes.”, wettert er. Die Daten und Fakten würden die Bundesregierung nicht interessieren. Kai setzt direkt das Framing für die Veranstaltung:

“Wir haben keinen Virus. Wir haben eine Gruppierung die wie ein Virus wirkt. Das ist Frau Merkel, die Bundesregierung und die Landesregierungen. “

Die Zerstörung der Wirtschaft geschehe ohne wissenschaftliche Grundlage. Maßnahmen und Ärzten, die Quatsch erzählen würden, hätten wir Kurzarbeit zu Verdanken. Alle Kurzarbeitenden würden bald arbeitslos werden. Neue Regelungen zur Meinungszensur seien in Planung. Er komme aus Polen und das, was hier passiere sei “identisch das gleiche” was er im Sozialismus erlebt habe. So kommt er zur Maskenpflicht und sagt:

“Wir sollen spüren dass wir Sklaven sind … Die wollen uns im Gehirn einbrennen dass wir Sklaven sind.”

Und um dem ganzen die Krone aufzusetzen fügt er am Ende noch hinzu, der diskutierte Immunitäts-Ausweis sei ein Ausschluss anhand “biologischer Merkmale”: “Wir haben solche Regelungen hier in Deutschland in 30er Jahren gehabt”. Die Menschen rassistisch zu unterscheiden, sei der Plan. Man müsse Widerstand leisten, sonst würden man sich in der Diktatur der 30er Jahren wiederfinden. Virologe Drosten will er im Knast und nicht in den Medien sehen.

Wie so oft hält die Rede einem Faktencheck kaum stand. Die Linie der Reproduktionszahl tänzelt tatsächlich seit Mitte März ein wenig unter 1. Naheliegender wäre aber bei einer Analyse, dass das Einhalten von Hygieneempfehlungen und die allgemeine Sorge vor der Krankheit zum Rückgang geführt hat. Hier kann man nachlesen, wie Social Distancing Maßnahmen epidemiologisch wirken und in welcher Phase wir uns befinden. Kai Orak vergleicht in seiner Rede Tote aus dem Zeitraum vom 1.1.-12.2. (laut ihm 285.141 Tote), mit denen der Vorjahre. In den letzten 3 Jahren wären es im gleichen Zeitraum sogar mehr Tote gewesen. Nach kurzer Recherche stellt man aber fest: Todesfälle begannen aber erst ab Mitte März aufzutreten. Ziel der Maßnahmen war hauptsächlich eine Überlastung des Gesundheitssystems und damit eine große Zahl an Todesopfern zu verhindern — was bisher gelungen ist.

Offenes Mikrofon am Opernplatz: Hunderte Lauschen. 09.05.20, Hannover

Die folgenden Reden und das “offene Mikrofon” gehen in eine ähnliche Richtung. Unter anderem trat der Vordenker vieler rechts-esoterische Versicherungsforderungen Jo Conrad auf. Alle Reden können im Netz nachgesehen werden.

Die Analyse verschiedener Statistiken stellt sich als äußerst komplex dar, unzählige Faktoren spielen eine Rolle. Die monokausalen Erklärungen von Orak und Freund*innen scheinen ein Umgang mit dem komplexen Problem zu sein. Was sich mit der Corona Querfront offenbart, ist der pure Egoismus. Die Priorität der eigenen Befindlichkeiten und ein oft krudes Weltbild aus “alternativen Medien” treiben Menschen an.

Interview mit Prof. Homburg durch den NDR. 02.05.20, Hannover

Der Professor

In Hannover hat die “Bewegung” auch einen prominenten Befürworter. Prof. Homburg, der an der Leibniz-Universität das Direktorat der Fakultät für öffentliche Finanzen inne hat, sprach bei der ersten Veranstaltung von “Hannover wacht auf”. Rein zufällig sei er vorbeigekommen. Beim zweiten mal wäre er nur noch “privat” und nicht als Redner vor Ort. Er gab dem NDR dennoch ein Interview, das später nicht gesendet wurde. Der Prof fantasierte von einem anstehenden “Bürgerkrieg”. Von FAZ und Tichys Einblick wird er gerne als Experte befragt und kritisierte schon früh die Maßnahmen. Mehr hier im Thread:

Auf Nachfrage am 02. Mai in Hannover gab er an, nicht in den Telegram-Gruppen vertreten zu sein. Bei der Frage, ob er auch an die Theorie um Gates glaube verfällt er in eine leicht selbstgefällige Erklär-Haltung. Aus einem Gespräch unter vier Augen wird in kürzester Zeit eine Rede an Umstehende. Die Süddeutsche Zeitung, hat sich mit Homburg auseinander gesetzt und ihn “Prof. Dr. Verschwörung” getauft..

Alubommel und Grundgesetz — Standardausrüstung bei den Protesten. 09.05.20, Hannover

Fürs Grundgesetz?

Wie bei der PEGIDA Bewegung 2014/15 beginnen nun Medien über die Kundgebungen zu berichten. Der erste Bericht der HAZ ist eher zurückhaltend. Auch hier findet der prominente Gast Homburg Erwähnung. Bei der zweiten und dritten Kundgebung hinterfragt die Lokalzeitung die Aussagen der Demonstrant*innen und deren Verhalten.

Zu Recht fordern die Kolleg*innen von “Belltower News” in einem Text: Eine Einordnung und Analyse — das muss nun Geschehen. Keine Homestories bei den Initiator*innen, kein “die Sorgen müssen wir ernst nehmen”. Extrem Rechte mischen sich unter eher unpolitische Menschen, für die ein zentraler Antrieb eine Überforderung mit der Pandemie ist. Der Eintritt in den Kaninchenbau.

Angemeldet werden die Proteste unter dem Motto “Grundgesetz verteidigen!”. Am Rand der Kundgebungen werden Ausgaben des Grundgesetz ausgelegt. Eingelegt finden sich Flyer. Hier wird beispielsweise bei “Wir Wachen auf” schonmal über Chemtrails gesprochen. Die Existenz der BRD wird in Frage gestellt — diese sei nur eine GmbH. So sehen das auch manche in den Chats. Es treffen also Menschen, die tatsächlich gegen Einschnitte in ihr Leben und das für das Grundgesetz demonstrieren wollen, auf solche die es ganz Leugnen. Wer aber bereits alles hinterfragt, kann schnell tief in den Kaninchenbau der Verschwörungsideologien eintauchen und eingesogen werden.

Eine schreibt zum Beispiel verunsichert im Chat:

“Ich empfinde es für mich im Moment total schwierig, die richtigen Wege zu finden. … deswegen habe ich de Weg erstmal für mich gewählt jeden Samstag an den Demos teilzunehmen …”.

“Gegen Querfront und Verschwöhrung” — etwa 50 demonstrieren gegen die Veranstaltung von Kai Orak. 09.05.20, Hannover

Und weiter?

Die Gruppe in Hannover wähnt sich im Höhenflug. Man sollte sich bewusst werden: Ein paar Wochen wird es dauern bis eine Änderung der Infektionszahlen sichtbar ist. Die Lockerung von Maßnahmen ist abhängig Rückgang eben dieser und wird nach Landkreis entschieden.

Gesellschaftliche Antworten auf die Gruppen scheinen schwierig. Erste Gegenproteste sorgen für Wut. In den Reden des Gegenprotests geht es um antisemitische Denkmuster. Auch für kommendes Wochenende mobilisieren Aktivist*innen, um sich der Gruppe entgegen zu stellen.

Bei der Beobachtung der Chats und Veranstaltungen stellen sich die Fragen: Warum gegen eine Zwangsimpfung mobil machen, noch bevor ein Impfstoff entwickelt wurde? Wie kann es sein, dass aus dem Privileg, Vorsorge und Vorkehrungen rechtzeitig getroffen zu haben und von der Pandemie bisher nicht so hart getroffen zu sein, DAS abgeleitet werden? Was müssen Menschen denken, die beispielsweise ihre Großeltern durch SARS CoV-2 verloren haben? Bei aller Unzufriedenheit mit autoritären Einschnitten in das Leben aller, bei allen Defiziten im Gesundheitswesen — wie kann DAS alles der Take darauf sein?

Quo vadis, Post-faktische Gesellschaft? Hören diese “Rebellen” erst auf wenn die eigene Oma unter der Erde liegt? Auf mich wirken die Veranstaltungen, wie die Manifestation des Präventionsparadoxes.

Vielen Dank allen Freund*innen und Kolleg*innen, die bei der Realisierung dieses Text geholfen haben.

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Freelancer based in Hannover and Munich. Work mainly focused on social movements, politics, far-right extremism and humanitarian crisis. I like multimedia.

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Michael Trammer

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